Ratsherren-Schleuderei
Schon im Mittelalter mußten Politiker hart im Nehmen sein. Erst recht, wenn es sich um Lokalpolitiker handelte die sich erdreisteten, sich gegen großmächtige Landesfürsten zu stellen. An der Fahrstraße zur Wartburg, auf einer steil abfallenden Wiese unterhalb des Droschkenwendeplatzes, steht ein unscheinbarer, vom Zahn der Zeit kräftig angenagter und von Besuchern sehr leicht übersehener Gedenkstein, der Velsbachstein. Die Geschichte, an die er erinnern soll, hat sich vor einigen Jahrhunderten ereignet.
Im Jahre 1247 war Heinrich Raspe, der letzte Landgraf aus dem Geschlecht der Ludowinger, kinderlos verstorben. Umgehend entbrannte ein blutiger Streit darüber, wer künftig in Thüringen herrschen solle: Markgraf Heinrich der Erlauchte von Meißen, der bereits einen Großteil des Landes in seinen Besitz gebracht hatte oder Sophie von Brabant, Tochter der heiligen Elisabeth und aus ludowingischem Geschlecht stammend, die Ansprüche für ihren noch minderjährigen Sohn Heinrich geltend machte.
Der Kaiser vermochte den Streit nicht zu schlichten und so kam es zum Thüringisch-Hessischen Erbfolgekrieg. Die Eisenacher Bürger mischten dabei unter Führung ihres Ratsherren Heinrich Velsbach (auch Heinrich von Welsbach) kräftig mit. Sie erhofften sich durch ihre Unterstützung von Sophie und ihres minderjährigen Sohnes, das Kind von Brabant genannt, die Reichsfreiheit für Eisenach.
Um den übermächtigen Markgrafen von der Wartburg zu vertreiben, errichteten sie Burgen auf den umliegenden Anhöhen und versuchten so, die Wartburg von aller Zufuhr abzuschneiden. Der Markgraf aber holte zum überraschenden Gegenschlag aus und zerstörte im Januar 1262 in einer stürmischen Gewitternacht mit seinen Rittern nicht nur die Burgen der Eisenacher, sondern nahm dank der Schützenhilfe einiger Verräter auch die widerspenstige Stadt ein.
All jene, die gegen ihn standen, wurden umgehend bestraft. Er nahm den ganzen Rat gefangen und ließ etlichen der Herren den Kopf vor die Füße legen.
Der Ratsherr Velsbach aber, der am energischsten für Sophie eingetreten war, sollte auf besonders spektakuläre Weise hingerichtet werden. Bei der Wartburg stand eine Blide, eine mächtige Steinschleuder, mit der üblicherweise gegnerische Burgen beschossen wurden. Auf diese wurde er nun gelegt und in Richtung der Stadt durch die Luft geschleudert. Auf einer Wiese, ca. 100 m unterhalb der Burg, schlug er auf. Doch er überlebte und schrie noch immer: Und das Thüringer Land gehört doch dem Kinde von Brabant! Also musste er die Tortur ein zweites und drittes Mal erleiden, bis er sein Leben aushauchte. An der Stelle, wo er letztmalig niederstürzte, soll für Heinrich Velsbach ein Gedenkstein gesetzt worden sein.
Der Ruhlaer Dichter Ludwig Storch erwähnte die Geschichte 1837, Ludwig Bechstein nahm sie in sein Thüringer Sagenbuch auf. In der Chronikliteratur wird das Ereignis aber schon früher erwähnt. In den 1335 abgeschlossen Reinhardsbrunner Annalen ist über diesen Fall zu lesen: Nachdem er zweimal geschleudert war, gab er, standhaft immer dasselbe ausrufend, beim dritten Wurf seinen Geist auf. In der Chronik von Johann Rothe heißt es, der Markgraf habe den Ratsherren gar von der Wartburg in die Stadt Eisenach werfen lassen. Um 1500 verewigt der Chronist Wigand Gerstenberg den spektakulären Vorfall in einer Federzeichnung. Auch urkundliche Belege liegen vor. In den Eisenacher Ratsverzeichnissen aus jener Zeit werden drei Vertreter dieses Geschlechtes genannt. Bei einem, Henricus de Welsbech, findet sich der später eingefügte Zusatz: Dieser soll geschleudert sein. Die Sage um den Ratsherren Velsbach kann somit im Kern als historisch verbürgt gelten.
Ob das als Velsbachstein unter Denkmalschutz stehende kleine Monument aber tatsächlich im 13. Jahrhundert als Gedenkstein für den Ratsherrn aufgestellt wurde, ist mehr als fraglich. Der Gestaltung nach handelt es sich eher um den Pfeiler eines gotischen Heiligenstandbildes, der aus dem ehemaligen Franziskaner-Kloster am Elisabethplan stammen könnte. Der Sage nach soll an seinem ursprünglichen Standort, nahe der Kniebreche, das Rosenwunder stattgefunden haben. Möglich ist auch, daß es sich um den Bildstock eines Heiligenbildes handelt, welches noch im 18. Jahrhundert an der Kreuzung gegenüber der (heutigen) Eselstation stand und als Sammelpunkt für Prozessionen diente. Er wurde vermutlich erst im 19. Jahrhundert, als man die Wartburg-Landschaft mit allerlei historischen Sehenswürdigkeiten "verschönte", an den Berghang gesetzt, der mit der Erinnerung an den Tod des Ratsherren verbunden war.